Erinnern
Übersicht:
Für viele Überlebende ist das Erinnern der erste Schritt zur Heilung.
Am Anfang muss daran erinnert werden, das man überhaupt missbraucht wurde. Als zweites kommen individuelle Erinnerungen. Die dritte Art des Erinnerns ist dass Wiederfinden der Gefühle, die man während des Missbrauchs hatte. Oftmals können sich Überlebende genau an das körperliche Geschehen erinnern, haben aber vergessen oder verdrängt, welche Gefühle sie dabei hatten.
Das Ausmaß des Vergessens ist bei jeder Überlebenden anders. Nicht alle Überlebende haben ihren Missbrauch vergessen können. Vielleicht wurden auch nur Teile des Missbrauchs verdrängt, um zu überleben.
Es gibt kein richtig oder falsch, wenn es um das Erinnern geht. Manche Überlebende haben viele unterschiedliche Erinnerungen, manche auch nur eine. Jahre des Missbrauchs werden manchmal zusammengeschoben in eine einzige Erinnerung. Es gibt auch Überlebende mit Missbrauchssymptomen, die sich nicht daran erinnern können, missbraucht worden zu sein.
Weggepackte Erinnerungen wiederzufinden ist anders, als bewusst zurück zu denken. Die Erinnerungen sind oft unklar und kommen einem vor wie ein Traum oder als würde man alles weit weg sehen.
Manchmal tauchen Erinnerungen auch nach und nach auf, in ganz kleinen Fetzen. Bruchstückhafte Erinnerungen lassen sich nur schwer zeitlich einordnen. Möglicherweise weiß man gar nicht genau, wann der Missbrauch anfing, wie alt man war oder wann und warum er beendet wurde. Diese Bruchstücke zusammenzubringen ähneln einem Puzzle.
Erinnerungsblitze
In einem Erinnerungsblitz erlebt man den Missbrauch noch einmal. Möglicherweise fühlt man wieder das gleiche wie damals, oder man bleibt starr und unbeteiligt, als ob man einen Film über jemanden anderes sehen würde. Oft sind solche Erinnerungsblitze visuell, bildhaft. Wie bei einem Tagtraum ziehen Bilder an einem vorbei, oder ähnlich einer Diashow.
Nicht jede Erinnerung kann visuell erinnert werden, es kommt auf die Art des Missbrauchs an. Fand der Missbrauch im Dunkeln statt, wurde das Gesicht nach unten gedrückt, oder die Augen verbunden, gibt es für diese Erinnerungen keine Bilder. Es bleiben vielmehr Gerüche und Geräusche, die wiedererinnert werden.
Die Sinne erinnern sich
Oft löst eine bestimmte Berührung, ein Geruch oder ein Geräusch die Erinnerung aus. Auch eine physiotherapeutische Behandlung, wie z.B. Massage, kann Erinnerungen wecken. Oft wird davon berichtet, das der Geruch eines Aftershave oder das Klappern einer Gürtelschnalle Erinnerungen hervorrief.
Körpererinnerungen
Manche Überlebenden erinnern sich auch nur an die Gefühle. Im Körper sind Erinnerungen gespeichert und es ist möglich, das Entsetzen der Tat körperlich noch einmal zu erleben. Es ist möglich, dass sich der Körper verkrampft, oder man fühlt die Schreie, die man als Kind nicht schreien konnte, oder ein Gefühl des Erstickens und der Beklemmung. Der Körper merkt sich, was das Bewusstsein vergessen will. Panikattacken könne ein Hinweis auf mögliche versteckte Erinnerungen eines Missbrauchs sein.
Erinnerungen können unter vielen verschiedenen Bedingungen wiederkommen.
Manche erinnern sich, weil sie endlich eine Beziehung haben, in der sie sich sicher fühlen, oder weil sie gerade eine Trennung hinter sich haben und ihr ganzes Leben auseinander bricht. Oft erinnern sich Überlebende an den Missbrauch in ihrer Kindheit, wenn sie als Erwachsene vergewaltigt oder körperlich angegriffen werden.
Erinnerungen kommen aber nicht immer auf dramatische Weise an die Oberfläche. Sie können einem auch scheinbar ohne Grund wieder einfallen, oder durch immer wieder kehrende Alpträume.
Seit die Medien sexuellen Missbrauch mehr und mehr beachten, kommt bei immer mehr Überlebenden die Erinnerung plötzlich wieder an die Oberfläche.
Überlebende erinnern sich häufig, wenn sie die Geschichte einer anderen Überlebenden hören (ihnen wird übel, schwindlig, sie können sich nicht konzentrieren, fangen an zu weinen) und erkennen, dass das, was da beschrieben wird, auch ihre eigene Geschichte ist.
Die Gefühle kommen wieder:
Ein Teil der Erinnerung ist unabhängig von Gefühlen. Aber wenn man sich mit seinen Gefühlen erinnert, können Hilflosigkeit, Angst, Schrecken und der körperliche Schmerz so echt sein, wie alles was man heute erlebt. Man fühlt sich, als würde man zermalmt, auseinandergerissen oder erstickt. Sexuelle Erregung kann bei einer Erinnerung auch empfunden werden, das erschreckt, aber Erregung ist eine natürliche Reaktion auf sexuelle Stimulierung. Es gibt keinen Grund sich dafür zu schämen.
Erinnerungen können eingebettet sein in dem Gefühl von Nähe und Liebe, man war glücklich, eingehüllt in eine besondere Art der Zuwendung. Ekel und Entsetzen sind nicht die einzigen Gefühle die auftauchen. Es gibt keine richtigen Gefühle, man muss fühlen, auch wenn man dabei ins Schleudern kommt.
Durch diese Gefühle gehen zu müssen gehört zum Schlimmsten, was die Erinnerung mit sich bringt. Das Opfer erlebt den ganzen Missbrauch gefühlsmäßig erneut.
*Quelle: Buch: Trotz allem